In der Pflege schrillen die Alarmglocken

Eine Pflegekraft steht neben einer Frau im Rollstuhl in einem Krankenhaus. In Österreich herrscht ein Pflegenotstand.
Der Pflegenotstand in Österreich wird sich in den kommenden Jahren massiv verschärfen. | © Adobestock/upixa
Die Republik steuert auf einen gravierenden Pflegenotstand zu. Die Reformversuche der aktuellen Regierung waren ein Schritt in die richtige Richtung, aber bei Weitem nicht genug.
Zu pflegen bzw. gepflegt zu werden ist eine herausfordernde Situation für beide Seiten – oft über viele Jahre hinweg. Die eigene Selbstständigkeit zu verlieren, auf Hilfe angewiesen zu sein, fremden Menschen vertrauen zu müssen. So führt Pflegebedürftigkeit zu einem empfindlichen Eingriff in die Intimsphäre der Betroffenen. Auf der anderen Seite bedeutet die Pflegetätigkeit, tagtäglich den körperlichen und geistigen Verfall eines Menschen zu begleiten. Das ist eine aufreibende, physisch und psychisch belastende Arbeit. Mit diesem lebensverändernden Einschnitt müssen sich immer mehr Menschen in Österreich auseinandersetzen. Schließlich wird 2035 jede:r vierte Bürger:in (aktuell nur jede:r fünfte) über 65 Jahre alt sein, das hat die Statistik Austria errechnet. Damit wird zum einen die Zahl der pflegebedürftigen Personen steigen, gleichzeitig gehen viele Betreuer:innen in Pension. Ein Pflegenotstand zeichnet sich ab.

Pflegenotstand: Die große Lücke droht

Bereits in sechs Jahren werden geschätzte 75.000 bis 100.000 Pflegekräfte fehlen. Bis zum Jahr 2050 werden es sogar 200.000 sein. „Menschen, die in der Pflege arbeiten, nehmen ihren Beruf als etwas Schönes wahr“, erklärt ÖGB-Pflegeexpertin Martina Lackner. Es gehe hierbei nicht bloß um einen Beruf, sondern auch um die besondere Beziehung zwischen Klient:innen und Pfleger:innen. „Aber wir haben viel zu wenig Personal, das dadurch dauernd unter Stress steht“, ergänzt Lackner. Auch deshalb denkt beinahe die Hälfte der Pflegekräfte übers Aufhören nach, wie eine Umfrage der Arbeiterkammer 2021 ergab.

Dass es gravierender Änderungen im Pflegebereich bedarf, um den Pflegenotstand abzuwenden, ist schon seit vielen Jahren evident. „Die Reformen der aktuellen Regierung gehen weitgehend in die richtige Richtung. Aber leider sind sie eher kosmetischer Natur“, sagt Pflegeexpertin Lackner. Damit sich aber ausreichend Menschen für den Pflegeberuf begeistern können und nicht nach kurzer Zeit wieder aussteigen, müssten zumindest die Arbeitszeiten mit einem erfüllten Privatleben vereinbar sein. Und es müsste eine langfristige Planbarkeit von Diensten gegeben sein. Auch die Entlohnung müsste besser werden, und es bräuchte mehr Personal sowie einen einheitlichen Betreuungsschlüssel in ganz Österreich. „Wir brauchen eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich“, bringt es Martina Lackner auf den Punkt. Zudem bedarf es einer gesetzlichen Änderung der sogenannten „Schwerarbeiterregelung“, damit auch mehr Arbeitnehmer:innen aus dem Pflegebereich für die Schwerarbeitspension anspruchsberechtigt werden.

Infografik: Bis zum Jahr 2050 fehlen 200.000 Pflegekräfte.

Harte Kost für Pfleger:innen

Nacht-, Sonntags- und Feiertagsdienste sind in der Pflege üblich und auch notwendig. Der ohnehin schon herausfordernde Beruf ufert durch die steigende Zahl der Demenzerkrankten – eine Folge der höheren Lebenserwartung – noch mehr aus. In Österreich sind Schätzungen zufolge 115.000 bis 130.000 Menschen von Demenz betroffen. Dazu zählen auch alle Alzheimer-Erkrankungen. „Leider müssen wir aber auch immer mehr jüngere Menschen mit Demenz betreuen“, weiß Bogdan Lazar, Betriebsratsvorsitzender der Kremser Standorte des privaten Pflegeheimbetreibers SeneCura. Lazar beschreibt einen traurigen Umstand, der die Pflegefachkräfte mit neuen Anforderungen konfrontiert. Manche der erkrankten Bewohner:innen reagieren aggressiv gegenüber anderen Klient:innen und dem Personal. „Freilich müssen wir uns vergegenwärtigen, dass diese Menschen nicht von Grund auf böse sind und ihr Verhalten einfach dieser Krankheit geschuldet ist“, sagt er. Entscheidend sei, dass Pfleger:innen durch eine entsprechende Schulung auf diese Wesensveränderung vorbereitet werden.

Trotzdem sei die Pflege „für viele eine Berufung und nicht nur ein Beruf.“ Das zu betonen, ist ÖGB-Pflegeexpertin Martina Lackner ein Anliegen. „Viele sind mit Leib und Seele bei der Arbeit, und da ist Dienst nach Vorschrift kaum möglich.“ Der Berufsalltag in der mobilen Pflege oder in einem Heim ist häufig auf die Minute durchgetaktet. Oft sind Pfleger:innen die einzigen Menschen, mit denen Klient:innen reden und ein zwischenmenschliches Verhältnis aufbauen können. Beim Kontakt ständig auf die Zeit zu achten, führt beim Personal zu einem emotionalen Dilemma.

„Eine gute Pflege benötigt Zeit“

Auch in der Pflegeeinrichtung SeneCura gibt es Personal, das den Dienst früher beginnt und später beendet als im Dienstplan vorgesehen. „Viele sitzen dann mit den Heimbewohner:innen zusammen, spielen mit ihnen Karten oder führen sie eine Runde im Garten spazieren“, erzählt der SeneCura-Betriebsratsvorsitzende Bogdan Lazar. Die investierte Zeit wird nicht als Arbeitszeit verbucht. „Eine gute Pflege benötigt aber Zeit“, weiß der 35-Jährige. Er ist selbst ausgebildete Pflegefachkraft und teilweise freigestellt. An zwei Tagen pro Woche kann sich Bogdan Lazar seiner Betriebsratstätigkeit widmen. „Wichtig ist auch, zwischen den Diensten länger frei zu haben, damit sich die Pfleger:innen auch wirklich erholen können, denn das verhindert längere Krankenstände.“ Lazar vertritt 185 Mitarbeiter:innen an drei Standorten, davon 140 Beschäftigte im Kremser Haupthaus, weitere in zwei nahegelegenen kleineren Einrichtungen.

Portrait Betriebsratsvorsitzende Bogdan Lazar im Interview über den Pflegenotstand.
Der Betriebsratsvorsitzende Bogdan Lazar weiß, wie sehr der Zeitdruck den Berufsalltag von Pflegekräften erschwert. Auch genügend Erholung zwischen den Diensten sei für das Personal essenziell. | © Markus Zahradnik

Zwar kann sich Österreich zweier Etappen einer Pflegereform in jüngster Zeit (2022–2024) rühmen, die Ausbildungs- und Fortbildungsmöglichkeiten geschaffen haben, doch den Pflegenotstand haben sie nicht behoben. Das liegt auch daran, dass jedes Bundesland seine eigenen Regelungen hat. Sie reichen von Ausbildungsvorschriften bis zum Personalschlüssel. Ein bundesweites Gesetz, das definiert, was angemessene und professionelle Pflege gewährleisten muss, fehlt. Ebenso wie die Finanzierung der dringend notwendigen Veränderungen. „Wir sollten dabei auch an Vermögensteuern denken“, so ÖGB-Pflegeexpertin Martina Lackner, die eine weitreichendere Diskussion anregen will. Auch die Anerkennung von Pflegeausbildungen, die im Ausland abgeschlossen wurden, müsse vorangetrieben werden. Solange der Zugang zum Arbeitsmarkt nicht erleichtert werde und Arbeitsbedingungen nicht verbessert würden, bleibe Österreich unattraktiv für professionelle Pflegekräfte aus anderen Staaten. Das erschwert die Arbeit gegen den Pflegenotstand.

Pflegenotstand: Warum die 24-Stunden-Betreuung keine Lösung ist

Sie kommen aus der Slowakei, Ungarn, Rumänien oder Polen: Frauen aus osteuropäischen Ländern, die in ihrer Heimat nicht genug verdienen und meist über Freundinnen bei einer der zahlreichen Pflegevermittlungsagenturen landen. Von diesen werden sie in die 24-Stunden-Betreuung nach Österreich vermittelt. Die Mehrheit dieser Frauen sind selbst Mütter, die ihre jüngeren Kinder bei den Großeltern zurücklassen müssen und die älteren Töchter ebenfalls in den Pflegebereich drängen. Es sind Frauen, die zum Großteil kaum Pflegeerfahrung haben, aber eine Möglichkeit sehen, durch solche Tätigkeiten ihre Existenz zu sichern. Und es gibt unter ihnen auch Frauen, die Anfang oder Mitte 70 sind und als Pflegerinnen arbeiten, weil sie verwitwet sind und sich das Leben ohne Arbeit nicht leisten können. Dass sie ihr hart erarbeitetes Geld mit den vermittelnden Agenturen teilen müssen – etwa für die sogenannten „Taxi“-Fahrten zur Pflegestelle und wieder zurück nach Hause –, macht es für diese Frauen nicht leichter. Oft erschweren Sprachbarrieren die pflegerische Tätigkeit noch zusätzlich – und zwar für beide Seiten.

„Wir reden von 24-Stunden-Betreuung und nicht von 24-Stunden-Pflege“, sagt die ÖGB-Expertin Lackner. „Das ist ein riesiger Unterschied, und die Betreuung wird uns nicht retten.“ Entscheidend sei der Ausbau der mobilen Pflege. „In der mobilen Pflege gibt es eine bessere Qualitätssicherung – da habe ich auch die Sicherheit, dass es qualifizierte Pflegeassistent:innen, Fachassistent:innen oder Heimhilfen sind“, erklärt Lackner. Derzeit sind bis zu einer Million Menschen in Österreich in eine Pflegetätigkeit involviert. Das reicht vom Einkaufen bis zur Körperpflege. Die weitaus meiste Pflegearbeit lastet traditionell auf den Schultern von Ehefrauen, Töchtern und Schwiegertöchtern. „Doch heutzutage hat sich langsam die Ansicht durchgesetzt, dass weder Pflege noch Betreuung einfach so nebenbei ausgeübt werden können“, erklärt Martina Lackner. Eine Pflegekarenz kann bis zu drei Monate dauern. Sie wird vor allem dafür genutzt, die externe Pflege für eine Person zu organisieren. Einen Rechtsanspruch auf Pflegekarenz bzw. -teilzeit gibt es aber nur für 14 Tage bzw. vier Wochen. „Wir fordern, dass es einen Anspruch für die gesamte Dauer der Pflegekarenz bzw. -teilzeit gibt“, sagt Lackner. „In dieser Zeit muss es auch einen effektiven Kündigungsschutz geben, um nicht vom Wohlwollen der Arbeitgeber:innen abhängig zu sein.“

Eine sinnvolle Tätigkeit

Trotz aller Probleme sehen viele Pfleger:innen auch die schönen Seiten ihrer Arbeit. „Der Dank und die Anerkennung, die wir von den Heimbewohner:innen bekommen, sind unbezahlbar“, versichert Bogdan Lazar – etwa von jener Bewohnerin, die schon ganze 25 Jahre im Kremser Haupthaus lebt und seit Kurzem Unterstützung bei verschiedenen Tätigkeiten benötigt, aber geistig noch sehr fit ist. „Wir lernen sehr viel von den älteren Generationen“, ist sich der Betriebsratsvorsitzende und Pfleger sicher. Auch das mag kurz über den Pflegenotstand hinwegtrösten.

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